Tempo, Tempo, Tempo!

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Bevor die Rhein-Neckar Löwen heute Abend um 19:05 Uhr in der SAP Arena gegen GWD Minden spielen, wurde heute auf handball-world.news eine Analyse von Rudolf Schiffmann veröffentlicht, in der aufgezeigt wird, was die Löwen diese Saison auszeichnet. Ein ganz wichtiger Punkt: Tempo! Der Artikel ist absolut lesenswert doch ich möchte den dort angesprochenen Punkten noch die eine oder andere eigene Beobachtung bzw. Bemerkung anfügen.

Das Torhüter-Gespann

Wie im Artikel richtig bemerkt, verfügen die Löwen aktuell wieder über ein hervorragendes Duo zwischen den Pfosten. Joel Birlehm hat sich hervorragend eingefunden und kann jederzeit Top-Leitungen erbringen. Darüber hinaus finde ich Interviews mit ihm außerordentlich interessant, da er frei von Plattitüden wirklich gute Analysen und Einschätzungen abgibt. Dass Mikael Appelgren wieder da ist, nach zwei Jahren, in denen teilweise schon vom Karriereende die Rede war, ist bemerkenswert und überragend! Dass er noch dazu in der Lage ist, wie vor seiner Verletzung richtig, richtig gute Leistungen abzuliefern, ist nochmal ein bisschen bemerkenswerter.

Die starken Leistungen, die beide bisher zeigen, sind ein Grundpfeiler für das hohe Tempo, das die Löwen gehen. Torwartparaden, schnelles Umschalten der beiden auf Angriffsmodus und immer mal wieder lange, präzise Pässe auf die durchgestarteten Außenspieler sind elementare Bausteine für den derzeitigen Erfolg der Löwen.

Wen trotz des aktuellen Erfolgs der beiden niemand vergessen sollte, ist David Späth. Er arbeitet noch an seinem Comeback, und es wird spannend, was passiert, wenn er wieder da ist. Schließlich hat das Eigengewächs Späth schon mehrfach gezeigt, wie gut er sein kann. Es bleibt zu hoffen, dass seine Gesundung Tempo aufnimmt und dass Trainer Sebastian Hinze auch auf der Torhüterposition der Jugend eine Chance gibt.

Der neue Albin Lagergren

Tja, was soll man zu Albin Lagergren sagen? Seit er 2020 vom SC Magdeburg kam, war er nicht gerade durch berauschende Leistungen aufgefallen. Er spielte insbesondere in der letzten Saison oft Alibi-Handball, hatte wenig Tempo in seinen Aktionen, war eher ein Hemmschuh als ein Leistungsträger. Mit der Übernahme des Trainerpostens durch Hinze änderte sich das schlagartig. Mittlerweile ist fast regelmäßig der Lagergren zu sehen, den die Löwen verpflichtet hatten. Ein Spieler, der technisch hervorragend ist, der Tempo und Entschlossenheit verkörpert, der durchsetzungsstark Tore erzielt, ohne seine Nebenleute zu vergessen.

Wie im oben verlinkten Artikel beschrieben, passt die Art, wie Lagergren Handball spielt und versteht, hervorragend zu Hinze. Die Frage, ob Lagergren über diese Saison hinaus bei den Löwen bleibt (sein Vetrag endet im nächsten Sommer), ist daher wieder offen. D.h., sofern er noch nicht woanders unterschrieben haben sollte, ohne dass das bisher bekannt wurde. Spieler von der Qualität, die Lagergren derzeit verkörpert, gibt es auf Rückraum Rechts nicht viele. Was ich vor der Saison tatsächlich nicht für möglich gehalten habe, ist nun Realität: Ich würde mir wünschen, dass Lagergren noch eine Weile bei den Löwen bleibt.

Aus der Abwehr Tempo gehen

Egal, wie der Innenblock der Löwen in den letzten Jahren aussah, es gab fast immer ein gewaltiges Problem: mangelndes Tempo nach Ballgewinnen oder Toren des Gegners. Ob das nun Ilija Abutovic war oder auch Mait Patrail – Tempo, im Sinne von, “schnell” bis “sehr schnell” – war nicht zu erwarten. Das bremste die Löwen aus. Nun kamen zwei neue Spieler, die auch gleich gemeinsam den Innenblock bilden sollten: Halil Jaganjac und Olle Forsell Schefvert. Sowas kann gewaltig in die Hose gehen, oder zumindest eine ganze Zeit dauern, bis die Abstimmung untereinander und mit den Nebenleuten funktioniert.

Oder es klappt praktisch von der ersten Minute an, so wie bei den Löwen. Unglaublich, in welchem Tempo die beiden zusammen gefunden haben! Hier haben die Löwen – endlich mal wieder, möchte man sagen! – richtig gut eingekauft. Beide Spieler haben ein sehr gutes Gespür dafür, wann sie heraustreten und aggressiver sein müssen, und wann es richtig ist, defensiver zu stehen. Zwar gibt es nach wie vor häufiger einen Abwehr-Angriff-Wechsel, aber eben verzögert. Schefvert übernimmt die Position auf Rückraum Mitte, bis das Team in den Positionsangriff geht, falls die erste und zweite Welle nicht erfolgreich abgeschlossen werden kann. Erst dann macht er für Juri Knorr Platz.

Tempo auch nach hinten

Wenn Schefvert draußen ist, und der Rückwechsel nicht machbar ist, kann Jannik Kohlbacher zusammen mit Jaganjac den Innenblock bilden. Das ist dann zwar qualitativ nicht ganz so gut wie mit Schefvert, aber deutlich besser als befürchtet. Kohlbacher lernt dazu. Ihn in absehbarer Zeit sogar bewusst in den Innenblock zu stellen, als echte Alternative, erscheint keine Utopie mehr zu sein.

Wichtig ist meiner Meinung nach insbesondere, dass Schefvert keine Notlösung auf Rückraum Mitte ist, sondern dass er das sehr gut spielen kann. Dadurch ist in der ersten und zweiten Welle Struktur drin, und das mit beiden Außen. Das war ja ein Manko mit Andy Schmid in der Abwehr. Er trug die Angriffe nach vorne, deckte aber halt auf der Außenposition, was eine Seite aus dem Tempogegenstoß mehr oder minder heraus nahm.

Das ist nun kein Andy-Schmid-Bashing! Er hat das über Jahre herausragend gemacht und dadurch den fehlenden Außenspieler kompensiert. In den letzten ein, zwei Jahren konnte er das aber nur sehr selten. Das Tempo, das die Löwen in dieser Saison gehen, ist aus meiner Sicht nicht zuletzt dadurch möglich, dass beide Außenpositionen durch gelernte Außenspieler besetzt sind.

Zurück zum Innenblock

Hier möchte ich etwas ergänzen, was im oben verlinkten Artikel gar nicht angesprochen wurde. Abgesehen von den Fähigkeiten, im Innenblock zu spielen und Tempo in das Angriffsspiel zu bringen, zeichnen sich Jaganjac und Schefvert meiner Meinung nach noch durch etwas anders aus. Jaganjac ist unheimlich emotional, ohne hitzköpfig zu sein. Er feuert seine Mitspieler an, fordert das Publikum auf, laut zu werden, feiert seine eigenen gelungen Aktionen, aber auch die der Mitspieler. Seine Mimik und Gestik ist etwas, was ich insbesondere in der letzten Saison nur selten von den Löwen gesehen habe. Er tut auch in dieser Hinsicht der Mannschaft sehr, sehr gut.

Das ist bei Schefvert anders. Ja, auch er kann emotional sein, auch er kann sich freuen. Aber bei ihm fällt mir vor allem die Ruhe auf, mit der er spielt. Während Jaganjac mit seiner Emotionalität die Mitspieler pusht, erscheint mir Schefvert derjenige zu sein, der mit seiner Ruhe den Mitspielern eine enorme Sicherheit gibt. Er spielt seinen Part absolut verlässlich, macht nur ganz wenige Fehler. Darin erinnert er mich an Mait Patrail, doch Schefvert bietet so viel mehr als Patrail. Dass er ab und an statt Juri Knorr das Angriffsspiel lenkt, ist eine hervorragende Option im Spiel der Löwen, die Patrail eben nicht bieten konnte. Noch neigt Knorr dazu, ab und an zu überdrehen, zu viel zu wollen. Dann ist diese Sachlichkeit, mit der Schefvert zu Werke geht, genau das richtige für die Löwen.

Tempo als Vorgabe des Trainers

Vielleicht ist es etwas überspitzt, aber in den vergangenen Jahren konnte das Spielsystem der Löwen mit “Wir geben Andy den Ball, und dann schauen wir, was ihm einfällt” beschrieben werden. Das ist jetzt definitiv anders. Das System von Sebastian Hinze ist keines, bei dem es auf einen bestimmten Spieler ankommt. Alle sollen verinnerlichen, was das Ziel ist: Stabile Abwehr, Ballgewinne, schnelles Umschalten. Jeder muss wissen, wie dieses schnelle Umschalten funktionieren soll. Mir fiel das z.B. beim Gastspiel der Löwen in Stuttgart besonders auf. Mal war es Gensheimer, mal Groetzki, mal Lagergren, mal Knorr, die bei einem Ballgewinn am schnellsten vorne waren und als Anspielstation gefunden wurden.

Ich war sehr skeptisch, als im Frühjahr 2021 die Verpflichtung von Hinze für 2022 bekannt gegeben wurde. Nicht wegen Sebastian Hinze selbst, den ich schon da für einen sehr guten Trainer hielt. Zwar konnte ich nachvollziehen, dass es für die Löwen zu teuer war, Hinze vorzeitig loszueisen, und vielleicht gab es ja noch andere Gründe, die das unmöglich gemacht haben. Ideal war das aber nicht. Noch dazu baute man dadurch eine besonders große Erwartungshaltung auf, denn wenn ein Verein solange auf einen Trainer wartet, eine Übergangssaison mit allen Unwägbarkeiten und Gefahren riskiert, dann doch nur, weil der neue Wunschtrainer absolut überragend ist. Alles darunter konnte es nicht sein, oder?

Wie es derzeit aussieht, hat sich das Warten tatsächlich gelohnt.

Überzeugung

Die Löwen spielen absolut überzeugend. Nicht immer souverän, wie man beim Auswärtsspiel beim Ex-Club des Trainers sehen konnte. Das 27:26 beim Bergischen HC war etwas glücklich, aber es zeigt, dass die Löwen eine gewisse Qualität und Stabilität bereits erreicht haben. Darüber hinaus glauben sie wirklich an das Konzept des Trainers; daran, dass das enorm hohe Tempo richtig ist. Wie es mit dieser Überzeugung tatsächlich aussieht, wird sich natürlich erst zeigen, wenn auch mal ein, zwei Spiele verloren gehen. Dann, wenn die nach wie vor nicht gerade geringe Zahl an technischen Fehlern nicht kompensiert werden kann. Und das wird passieren, ganz sicher. Aber wegen mir kann es bis dahin gerne noch eine Weile dauern.

Die Chaos-Zeiten sind vorbei

Zumindest ist das die Hoffnung, und bisher sieht es ja danach aus. Im oben verlinkten Artikel steht eine aussage von Patrick Groetzki, der aus meiner Sicht schon einen wichtigen Grund für den Aufschwung anspricht:

“Wir wissen nun, dass nicht wieder ein neuer Trainer kommt und wir mit Sebastian etwas aufbauen können. Das sorgt für Ruhe in der Mannschaft”

https://www.handball-world.news/o.red.r/news-1-1-1-145954.html

Kontinuität. Das Wort hat Groetzki zwar nicht verwendet, aber darum geht es. Zu wissen, dass dieser Trainer die nächsten Jahre da sein wird, dass es um seine Spielidee geht, dass diese nicht zur nächsten Saison über den Haufen geworfen wird. Diese Gewissheit gibt die notwendige Sicherheit. Und wenn diese neue Spielidee so überzeugend dargebracht wird wie von Hinze, und wenn die Spieler sehen, dass das erfolgreich sein kann, wenn alle mitziehen, dann gibt das nochmal mehr Sicherheit.

Mit Tempo zurück in die Spitzengruppe der Liga?

Drei bis fünf Jahre würde es dauern, bis die Löwen wieder in der Spitzengruppe der HBL ankommen, sagte Hinze zu Beginn seiner Amtszeit. Die Verantwortlichen bei den Löwen waren und sind augenscheinlich bereit, ihm diese Zeit zu geben. Das ist ein wichtiger Faktor, denn es wird Rückschläge geben. Auch wenn mancher, wie z.B. Stefan Kretzschmar, der Meinung ist, dass es auf alle Fälle schneller gehen muss, weil niemand so viel Zeit bekommt, hoffe ich, dass die Löwen dazu stehen.

Die Spiele im Oktober und November werden ein sehr guter Gradmesser dafür, wo die Löwen tatsächlich stehen. Die Gegner werden schwerer, und jeder weiß mittlerweile, wie die Löwen spielen. Ein Überraschungseffekt bietet das hohe Tempo der Löwen nicht mehr, auch wenn es weiterhin schwierig sein dürfte, dieses Tempospiel entscheidend auszubremsen. Daher werfe ich zum Abschluss einen …

Blick auf die kommenden Gegner

Heute gegen Minden, nach der Länderspielpause beim THW, dann zuhause gegen Hannover-Burgdorf. Das sind die Spiele im Oktober. Sind 6:0 Punkte möglich? Ja, natürlich, aber auch 2:4 Punkte wären möglich. Gegen Minden wird es zwar u.U. schwieriger, als manche meinen, aber das muss einfach ein Sieg werden. In Kiel kann man verlieren, und Hannover-Burgdorf hat Qualitäten, die nicht zu unterschätzen sind. Einfach wird das nicht.

Im November geht es dann nach Hamburg und Magdeburg, zuhause gegen Lemgo-Lippe, dann zum HC Erlangen und schließlich beenden die Löwen den Monat mit einem Heimspiel gegen die Füchse aus Berlin. Zwischen 2:8 und 8:2 Punkten erscheint mir hier alles möglich. Aber letztlich ist mir persönlich (!) das Punktekonto in dieser Saison gar nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, dass die Mannschaft weiterhin Tempo spielt, weiter an diese Spielidee und an sich selbst glaubt, auch wenn es Rückschläge gibt. Wichtiger als das Punktekonto ist für mich auch, dass sich die einzelnen Spieler weiter entwickeln. Auch das Spielsystem muss sich noch weiter entwickeln, muss (noch) mehr Alternativen bieten.

Die Rhein-Neckar Löwen sind auf einem guten Weg, den ich mit gehe. Ist noch jemand mit dabei?